gut gemeint


 

 

sie lag auf der sonnenterrasse und genoss den wunderschönen urlaubstag, indem sie in aller ruhe ihrer lieblingsbeschäftigung nachging. es war rundherum friedlich und nur die geräusche der natur waren zu hören. so konnte sie sich voll auf den moment konzentrieren und ihr lieblingsbuch lesen.

es war bereits das dritte mal, dass sie es las, doch sie konnte immer wieder neue erkenntnisse daraus gewinnen. dieses buch entsprach genau ihrem geschmack. es war witzig und sehr inspirierend für sie. sie konnte jedes mal etwas neues für ihren lebensalltag mitnehmen. so war sie auch jetzt sehr gespannt, was es dieses mal für sie bereit hielt.

 

sie war mittlerweile schon so weit auf ihrem lebensweg, dass sie sich selbst recht gut beobachten konnte. dann schien sie sich wie mit einem äußeren auge wahrzunehmen. 

auch jetzt, beim lesen, war es so. sie sah sich die seiten lesen, umblättern, hin und wieder zustimmend nicken und lächeln.

da sie mit sich und der welt zufrieden war, schloss sie ihr äußeres auge und war wieder ganz bei ihrem buch. 

 

plötzlich bemerkte sie hinter dem rechten buchrand eine kleine bewegung an der untersten stufe des terrassenaufgangs.

sie blickte zur seite und sah eine kleine ameise, die etwas zu schleppen schien. ihre ganze aufmerksamkeit war nun bei dem kleinen geschöpf. 

sie legte ihr buch zur seite, richtete sich auf ihre liege auf und beobachtete die ameise aus der distanz, um sie nicht zu stören.

 

es war etwas großes, das die ameise zwischen ihren zangen hielt. sie trug dieses etwas vor sich her über die gesamte länge der stufe. dann, am ende der stufe, drehte sie sich um und zog es, rückwärts krabbelnd über den absatz nach oben.

oben angelangt drehte sie sich wieder um und trug ihr gewicht wieder vor sich her.

als sie diese prozedur auf der zweiten stufe wiederholte, stand die frau auf und ging zur ameise, um diese genauer beobachten zu können und um zu sehen, was sie schleppte. 

es war der körper einer toten raupe, den sie vermutlich zu ihrem volk bringen wollte. 

 

sie beobachtete sie weiter und war erstaunt über ihre kraft und entschlossenheit und sie bemerkte, wie sie sich langsam gedanken machte, der ameise diesen mühevollen weg - es waren noch acht weitere stufen - zu ersparen.

dann ging sie selber die stufen hinauf und sah, wie eine ameisenstraße quer über den hügel führte. das musste der ort sein, wo die kleine ameise mit ihrer beute hinwollte. sie lächelte und war mit glückseligkeit erfüllt, dass sie dem kleinen geschöpf nun helfen konnte. sie würde ihm einen mühsamen weg ersparen, das tragen einer schweren last abnehmen.

 

voller freude ging sie zur ameise, nahm den raupenkörper zwischen ihre finger, hob ihn an und trug beide hinauf zur ameisenstraße.

die kleine ameise hielt ihre raupe fest, als wollte sie mit der frau darum kämpfen und zappelte mit ihren kleinen beinen in der luft.

 

als die frau bei der straße ankam, setzte sie beide mitten darin ab.

 

kaum waren sie abgesetzt schien bei den ameisen plötzlich aufregung auszubrechen.

zuerst kamen nur einzelne näher an den neuankömmling heran, berührten sie, liefen davon und kamen wieder heran.

die menge der heraneilenden wurde immer größer, sodass die ameise ihre beute nicht mehr länger halten konnte, da sie sich gegen die menge wehren musste. 

der raupenkörper wurde nicht einmal beachtet und immer wieder angestupst, sodass er schließlich den hang hinunter rollte. 

für die kleine ameise begann ein kampf ums überleben.

 

 

die frau sah dem traurigen schauspiel regungslos zu. sie konnte es nicht fassen, welche auswirkungen ihre hilfestellung in dieser situation hatte.

sie hatte es nur gut gemeint, wollte nur helfen, dachte, sie wüsste, wo die ameise hingehörte.

 

doch sie hatte sich getäuscht und so wurde nicht eine geschichte aus ihrem buch, sondern das schicksal dieser kleinen ameise der lehrmeister ihres lebens.

 

 

 

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