standpunkt


 

 

er war schon sehr oft auf diesen berg gegangen, weil er all die wege, die auf ihn führten mochte, er den klängen der natur ohne zivilisationslärm lauschen konnte und er die aussicht auf ihm genoss.

immer wieder entdeckte er neues, das ihm bei den vorherigen wanderungen nicht aufgefallen war.

er staunte über die vielfalt der natur und wie sie sich zu jeder jahreszeit in einem neuen kleid zeigte.

 

manchmal begegnete er anderen wanderern, an denen er entweder grüßend vorbeiging, oder sich auf ein kleines gespräch einließ.

 

dieses mal – knapp unter dem gipfel – begegnete er einem paar.

ihm fiel auf, dass sich die frau dick angezogen hatte und der mann eher leicht bekleidet war.

so fragte er die beiden, wie kalt es denn auf dem gipfel wäre, um sich ein wenig vorbereiten zu können.

darauf antwortete die frau, dass es sehr kalt und windig wäre.

der mann jedoch erwiderte, dass dies nicht stimme und es für ihn sehr angenehm gewesen wäre. er schien sogar ein wenig entrüstet über ihre antwort und sagte, dass man einer frau keinen glauben schenken sollte.

 

ohne nun wirklich zu wissen, welche antwort die richtige war, ging er weiter und sagte sich, dass er die erfahrung einfach selber machen müsse.

 

als er am gipfel ankam und sich zum gipfelkreuz stellte, wehte ihm ein kalter, bissiger wind entgegen. er nahm seine windjacke aus dem rucksack und zog sie sich über.

die frau hatte recht – es war sehr kalt und unangenehm.

 

da er sich entschlossen hatte eine kurze rast zu machen, suchte er sich einen etwas angenehmeren ort für eine erholungspause.

er ging nur drei bis vier schritte weiter und fand einen windstillen platz knapp unterhalb des gipfelkreuzes.

als er sich dort niedersetzte, wurde es ihm sofort so warm, dass er seine jacke wieder ausziehen konnte.

auch der mann hatte somit recht – hier war es angenehm warm und windstill.

 

 

er wusste nun, dass beide auf ihrem jeweiligen standpunkt recht hatten.

beide machten ihre erfahrung genau dort, wo sie sich befanden und zwar genau so, wie sie sie beschrieben hatten.

 

vermutlich waren sie aber beide nicht weiter gegangen, hatten sich nicht von ihrem standpunkt gelöst, um zu erfahren, wie es aus der sicht des anderen aussehen könnte.

aber vielleicht hat sie das auch schon lange nicht mehr interessiert.

 

 

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