last


 

 

sie zog ihre kreise über dem klaren wasser. ihr überblick war einzigartig, denn sie kannte jeden stein, jeden baum, jeden bach und natürlich den see, der unter ihr war ganz genau.

manchmal drehte sie ihren kopf zur linken oder rechten seite, um das, was sich im wasser unter ihr bewegte, genauer ausmachen zu können.

sie liebte ihr revier, denn es bot genügend möglichkeiten, um sich und ihre nachkommen zu nähren.

 

als sie den wind in ihrem federkleid so richtig spürte und bemerkte, wie er ihren weißen kopf durchkämmte, überkam sie ein wohliges gefühl und sie kreischte, wie man es von einer kräftigen seeadlerdame erwarten konnte. 

sie war vollkommen eins mit der natur.

 

bis auf ihren eigenen freudenlaut war es völlig still und genauso lautlos kreiste sie über dem see, auf der suche nach futter für ihre familie.

sie fühlte sich wohl in ihrer rolle, für ihren nachwuchs sorgen zu können.

manchmal brachte sie ihren beiden jungen ein kaninchen mit, manches mal einen fisch, eine echse oder einen kleinen vogel.

heute wollte sie wieder einen fisch in ihr nest bringen.

 

ihre bereitschaft, einen großen fang zu machen war diesmal besonders hoch, denn jedesmal, wenn sie mit futter nach hause kam, sagten ihre kleinen, dass sie die beste mutter wäre, die man sich nur vorstellen könne.

dadurch wuchs ihr stolz und gleichsam auch das gefühl, ihren kindern immer mehr bieten zu wollen, um sie nicht zu enttäuschen.

einige male hatte sie schon das gefühl, dass das gewicht das sie schleppte sehr schwer war, doch mit mühe und anstrengung schaffte sie es immer wieder, es zu tragen.

was tat sie nicht alles für ihre kinder!

 

plötzlich sah sie einen schatten im wasser.

die umrisse eines großen fisches waren knapp unter der wasseroberfläche zu erkennen.

sie drehte ihren kopf ein letztes mal zur seite, um ihre beute mit scharfem auge anzuvisieren.

dann setzte sie zum sturzflug an. sie legte die flügel an, um ihre sinkgeschwindigkeit zu erhöhen und kurz vor der wasseroberfläche breitete sie sie wieder aus.

sie glitt über das klare wasser auf den großen fischkörper zu und bohrte, als sie diesen erreichte, ihre krallen tief in seinen rücken.

es war ein prächtiger fang; größer als jeder zuvor.

ihre kinder würden stolz auf sie sein.

 

sie setzte zum aufstieg an, indem sie kräftig mit ihren flügeln schlug.

ihre schwingen waren voll ausgebreitet und bekamen in vollem umfang die luft unter sich zu spüren.

doch es war zu wenig; ihre kraft und die größe ihrer flügel reichten nicht aus, um diesen großen fisch aus dem wasser zu ziehen.

er wurde zu einer enormen last, doch sie konnte nicht loslassen. sie hatte sich so in ihn verkrallt und wollte ihn auch unbedingt nach hause bringen.

es war ihr größter fang, ihre bisher größte herausforderung.

sie schlug ihre schwingen mit all ihrer kraft bis sie müde und schwer wurden. die last, die sie hielt zog sie nach unten. 

 

sie spürte, wie das wasser langsam an ihrem körper entlang stieg und

ihr gefieder vom nass durchflutet wurde. dann ging sie mit der beute, die zur überschweren last wurde, unter.

in ihr tauchten bilder auf - bilder von ihren flügen, ihren fängen, ihren jungen.

sie dachte, sie könne alles bewältigen, wäre stark genug dazu, doch sie hatte sich überschätzt und jetzt auch überfordert. 

 

als all ihre kräfte nachließen und sie nichts mehr konrtrollieren konnte, fasste sie einen entschluss, der ihr normalerweise überhaupt nicht entsprach. sie öffnete ihre krallen und der fisch entkam. im selben moment spürte sie, wie sie wieder auftrieb bekam, sie ihr federkleid nach oben trieb.

sie sah hinauf in den himmel und wollte einfach nur wieder fliegen können. 

dann atmete sie einige male tief durch und versuchte sich aus dem wasser zu erheben. mit neu erlangter energie, die durch die luft in ihre lungen strömte, bewegte sie ihre flügel, schlug auf dem wasser auf, sank abermals ein, hob sich dann weiter aus dem nass und schaffte es schließlich ganz sich aus der umklammerung des wassers zu befreien.

 

als sie sich wieder in die lüfte erhob, war sie dankbar für eine weitere chance, ihr leben meistern zu können.

 

 

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