mitleid


 

 

da saß sie nun und wartete, wie schon so oft. sie wartete auf ihn.

wartete darauf, dass er wieder nach hause kam.

 

er war oft und lange unterwegs - hatte viele termine und blieb dann noch ein wenig länger bei seinen kunden.

das "nachspiel", wie er ihr mit einem lächeln erklärte.

es war sehr wichtig auch noch nach den geschäftlichen belangen bei seinen kunden zu bleiben, um ihnen zu zeigen, dass sie ihm als menschen wichtig sind.

er war ein wirklich guter geschäftsmann.

 

in der zeit, in der sie auf ihn wartete, stellte sie sich oft die frage, wie wichtig sie ihm eigentlich mittlerweile wäre.

merkte er denn nicht, dass sie seine nähe brauchte, dass sie immer einsamer wurde.

anfänglich war sie noch voller energie - sie würde damit leben können, wenn er oft weg wäre.

doch nun spürte sie diese unzufriedenheit, diese leere, die sie so gerne mit ihm auffüllen würde. 

sie würde alles mit ihm unternehmen, sich gemeinsam mit ihm ihre freizeit gestalten.

 

es gab schon einige situationen, in denen sie ihm ihr leid klagte und ihm vorwürfe machte. sie stritten dann miteinander und dennoch versuchte er in der folge auf ihre wünsche einzugehen.

doch hier spürte sie, dass er es nur aus mitleid tat - und das brauchte sie überhaupt nicht.

wenn er schon auf sie einging, dann sollte es aus liebe geschehen und nicht aus mitleid. auch hier wurde seine handlung mit einem vorwurf abgetan.

 

in ihrer kleinen küche sitzend, den raum immer einengender spürend, hatte sie plötzlich das gefühl aus ihrem körper schlüpfen zu wollen.

sie stellte sich vor, dass sie ihr "ich" oder "ego" sitzen ließ und ihr zweites ich aufstand und sich einfach nur einmal ansah.

 

als sie sich einige zeit betrachtete, erkannte sie, dass sie mittlerweile total untätig, kontaktscheu und frustriert geworden war und ihre lebenslust verloren hatte. sie war in eine welt der vorwürfe und unzufriedenheit geraten.

und nun sah sie auch ihren mann, der sich von ihr distanziert hatte, weil er sich seine lebenslust erhalten wollte.

er ging seinen eigenen weg und war zufrieden dabei.

 

schließlich erkannte sie ihr "selbstmitleid".

sie sah sich leidend dasitzen und ihr "aufrechtes ich" konnte fühlen, wie es ihrem "ermüdeten ego" ging. es hatte mitgefühl aber kein mitleid, denn es wusste, dass es bei diesem selbst auferlegten leiden nicht mitleiden musste.

 

dies war der moment, an dem sie wieder zu sich kam, sie eins mit sich selbst wurde.

 

sie stand auf und ging in den neuen tag.

 

 

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